Diese Sache mit dem "Vorwärts"
Lauchröden, Herbst 2023. Ich betrete die Bibliothek von Arne Koets mit einem heißen Tee in der Hand, wo der Hausherr in seinem Lieblingssessel sitzt und etwas auf seinem Laptop tippt. Nach der langen heutigen Unterrichtstour freue ich mich nun auf ein schönes Gespräch und wärme meine halb erfrorenen Hände an meiner Tasse.
"Ich bin gerade dabei, alle möglichen und üblichen Definitionen und Deutungen von "Vorwärts" zu sammeln, die man so hört. Ich bin bereits bei sieben Stück", sagt Arne und liest die bisherige Liste vor:
- Vom Fleck weg bewegen
- Bereit zum Beschleunigen
- Voraus (statt seitwärts oder rückwärts)
- Große Tritte
- Vermehrtes Abdrücken des Hinterbeins
- Schneller
- Mit Schwung
Diese Liste verdeutlicht, wie verwirrend und uneinheitlich der Begriff "Vorwärts" heutzutage verwendet wird und dass Menschen hier sehr verschiedene Dinge meinen können. Wenn der Reitlehrer sagt "Dein Pferd braucht mehr Vorwärts", kannst du also nicht ohne Weiteres daraus erschließen, woran es deinem Pferd (seiner Meinung nach) genau fehlt - Du müsstest also folgerichtig nachfragen: "Was genau meint mein Reitlehrer mit Vorwärts?"
Hmm... Ich denke an den berühmten Satz von Steinbrecht (oder Plinzner, man weiß es nicht so genau), der da lautet Reite dein Pferd vorwärts und richte es gerade. Dass Steinbrecht hier keine Temposteigerung meint, ist mittlerweile weit bekannt: Steinbrecht erläutert weiter:
Unter dem Vorwärtstreiben verstehe ich nicht ein Vorwärtstreiben des Pferdes in möglichst eiligen und gestreckten Gangarten, sondern vielmehr die Sorge des Reiters, bei allen Übungen die Schubkraft der Hinterhand in Tätigkeit zu erhalten, dergestalt, daß nicht nur bei den Lektionen auf der Stelle, sondern sogar bei Rückwärtsbewegungen das Vorwärts, nämlich das Bestreben, die Last vorwärts zu bewegen, in Wirksamkeit bleibt.
(Mehr zu Steinbrechts Kontext gibt es auf Chris Debskis Homepage "Pferde gesund bewegen zu lesen: https://pferde-gesund-bewegen.de/gustav-steinbrecht/)
Ja, ich weiß, das macht zunächst Knoten im Hirn. Steinbrecht meint also mit "vorwärts" etwas, das grundsätzlich vorhanden sein soll, aber auch bei Lektionen auf der Stelle, also zum Beispiel der Piaffe oder dem Mezair, sowie beim Rückwärtsrichten. Damit scheiden ein paar Deutungen der oben genannten Liste schon mal aus.
Woran merke ich denn, ob mein Pferd ein Bestreben hat, die Last vorwärts zu bewegen, wie es Steinbrecht fordert? Die Antwort darauf lieferte mir die praktische Erkenntnis, als ich auf einem Pferd Beritt gemacht habe, das sich als "Mogelpackung" herausgestellt hat - bildschönes Pferd, hübsche halbe Tritte, zumindest sah alles zunächst danach aus. In dem Moment aber, als ich mich selbst in den Sattel begab und fühlte, was mit dem Pferd in diesen piaffähnlichen Tritten passierte, schrillten meine Alarmglocken und ich begriff zum ersten Mal den Steinbrecht: Es war, als würde sich das Pferd nach rückwärts unter meinen Sattel verkriechen, mir unter dem Sitz nach hinten entgleiten. Das Pferd wurde hinten höher, vorne tiefer, der Widerrist sackte zwischen den Schulterblättern ein. Mein Becken kippte nach vorne Richtung Schambein und ich wurde ins Hohlkreuz gesetzt. Dabei trat das Pferd mit seinen Hufen nicht wirklich rückwärts, sondern sogar leicht nach vorne, nicht ganz auf der Stelle. Es wäre unmöglich gewesen, das Pferd aus dieser Haltung heraus mit leichten Hilfen nach vorne in einen Trab, Galopp oder eine Passage zu schicken - es hatte schlicht das Vorwärts verloren. Beim Halten kam das Pferd wieder vorne hoch und ich spürte wieder, dass es bei mir war. Das Pferd hatte also vom Halten mehr vorwärts als in den piaffähnlichen Tritten? Und außerdem spricht Steinbrecht von der Schubkraft der Hinterhand - was ich aber vor allem vorne spüre?
Ich erkläre es mir so: Die Hinterbeine bewegen sich auf eine bestimmte Art und Weise - so weit, so gut. Entscheidend für die gesamte Bewegung ist aber, was der restliche Körper im Zusammenspiel mit der Tätigkeit (= "Schubkraft" bei Steinbrecht) der Hinterbeine anstellt, sozusagen in welche Richtung die Energie fließt - Das nennen wir Schwung oder Impulsion.
Diese Erinnerung schießt mir in den Kopf und ich sage zu Arne: "Weißt du, für mich ist ein Pferd im Vorwärts, wenn ich es "vor dem Sitz, respektive Bein" habe, mein Pferd vor mir groß wird und ich auch in versammelten Lektionen oder im Rückwärts immer wieder leicht nach vorne raus komme, ohne Festtackern auf der Stelle. Vorwärts ist, wenn ich den Grad von Schub- und Tragkraft frei bestimmen kann. Vorwärts ist, wenn sich der Widerrist niemals unter den Sattel verkürzt und absackt. Auch im schnellsten Galopp kann es meinem Pferd an Vorwärts fehlen, oft passiert der Verlust von Vorwärts vor allem in schnelleren Gangarten, aber auch durch "Vergammeln statt Versammeln" kann Vorwärts flöten gehen, oder beim Zappeln auf der Stelle."
Arne denkt nach... "Stimmt, so kann man es sehen. Toll, dann sind wir jetzt bei sogar acht verschiedene Deutungen von Vorwärts: Vorwärts als Aufrichtung und Verlängerung des Widerristes nach vorne-oben in Bewegung, was sich in allen Aspekten äußert, die du beschreibst."
Ein Reitkunst-Pferd im Vorwärts zeigt also folgende Kriterien:
- Es geht genau so schnell, wie es sich selbst tragen kann, ohne auf die Vorhand und damit dem Reiter auf die Zügel zu fallen.
- Es bummelt nicht und muss nicht ständig vorangetrieben werden.
- Es wird sitzbequemer, hebt den Widerrist und zäumt sich bei.
- Es lässt sich ohne Mühe verlangsamen und voran schicken - Es zündet prompt auf die Hilfe des Reiters.
- Es läuft relativ leise und poltert nicht - weder vorne, noch hinten.
- Auch aus Lektionen auf der Stelle lässt es sich problemlos heraussenden.
- Es lässt sich ohne Mühe versammeln, ohne dabei Energie zu verlieren - Es geht nicht einfach "aus".
Vorwärts kommt also nicht ohne Hilfengehorsam aus und ist nur einem physisch gesunden Pferd möglich. Und es wird klar, wieso Steinbrecht mit seinem Satz Reite dein Pferde vorwärts und richte es gerade eigentlich schon fast alles zur Reiterei sagt, was es zu wissen und beherzigen gibt. Man muss nur verstehen, wie komplex eigentlich das Thema Vorwärts ist, das er hier meint.
Ich hoffe, dieser Artikel hat euch gefallen! :) Vielleicht regt er euch zum Nachdenken an, wenn demnächst wieder auf der Stallgasse die Rede vom Vorwärts ist.
Ich grüble indes weiter darüber nach, ob es auch Vorwärts im Stand geben kann... Und wie sich das Vorwärts von beispielsweise Distanzpferden zum Vorwärts von Reitkunstpferden unterscheidet...
Herzliche Grüße, eure Vicky